Der BVB verscheucht alte Dämonen

Mit zwei Jahren Verspätung nimmt Borussia Dortmund den französischen Spitzenklub Olympique Marseille auseinander – und erzielt dabei ein Tor wie ein Gemälde.

Es ist noch gar nicht so lange her, da wurde Jürgen Klopp gefragt, ob sein Team den deutschen Fußball angemessen international vertrete. Borussia Dortmund hatte da gerade sein letztes Gruppenspiel der Champions League gegen Olympique Marseille verloren und sich als amtierender Deutscher Meister sang- und klanglos aus Europa verabschiedet. Nur zwei Jahre später haben sich die Kräfteverhältnisse umgekehrt. Es ist nicht mehr der BVB-Trainer, der abwehrend Schlüsselbegriffe wie „Reifeprozess”, “junge Mannschaft” und “Entwicklung“ in den Raum werfen muss, sondern sein Gegenüber Elie Baup. Durch eine 3:0-Gala über Frankreichs Vizemeister hat sich Klopps Mannschaft nicht nur eindrucksvoll in der Gruppe F der Königsklasse zurückgemeldet, sondern auch ganz nebenbei alte Dämonen vertrieben.

„Der Revanche-Gedanke war jetzt nicht so groß, dass wir alles darauf aufbauen“, wiegelte Klopp nach dem starken Auftritt seiner Elf im früheren Westfalenstadion ab. Doch der Coach gestand auch ein: „Ein klein wenig war das schon ein Thema bei uns.“ Falls es also etwas zu beweisen gab nach den beiden schmerzhaften Niederlagen gegen OM vor zwei Jahren, ist das dem BVB eindrucksvoll gelungen. Wie schon zuletzt in der Bundesliga spielten sich die Dortmunder phasenweise in einen Rausch und sorgten durch den Doppelpack von Robert Lewandowski (19., 80. Foulelfmeter) und den Treffer von Marco Reus (52.) für klare Verhältnisse. Olympique dürfte nach der Klatsche genauso angeknockt die Heimreise antreten wie 2011 die Borussia, als sie in Marseille ebenfalls mit 0:3 unter die Räder kam.

Dortmund repariert die Geschichte
Wie unterm Brennglas wird anhand der Spiele gegen Marseille noch einmal klar, welche wahnsinnige Entwicklung der BVB genommen hat seit dem peinlichen Aus vor zwei Jahren. Damals besiegelte letztlich eine 2:3-Heimpleite gegen die Franzosen das Unglück und sorgte bei den stolzen Westfalen für einen Knacks im Selbstbewusstsein.

Heute sagt OM-Trainer Baup nach der Partie anerkennend, was die Dortmunder schon damals zu hören hofften: „Der BVB weist uns durch seine Spielweise den Weg.“ Durch konsequentes Gegenpressing, höchste Laufbereitschaft und vor allem lernfähige Spieler (und Trainer) hat es die Borussia in nur zwei Jahren vom naiven Königsklassen-Rückkehrer zum Finalteilnehmer und nun offenbar sogar zum Leitbild für europäische Spitzenklubs gebracht. Dortmund hat die Geschichte repariert.

Ein Tor wie ein Gemälde
In den 90 Minuten gegen das junge Team aus Frankreich bot der BVB sein komplettes Waffenarsenal auf, das mittlerweile zur Verfügung steht, um in Europa zu bestehen: Geschick, Technik, Taktik, Abgebrühtheit und zur Not auch eine Portion Glück. All diese Fähigkeiten kulminierten bereits in der 19. Minute im spektakulären Führungstreffer der Borussia, der das Spiel früh in die richtige Bahn lenkte.

Es war ein Tor wie aus dem Lehrbuch. Nein, besser noch: ein Tor wie ein Gemälde, das sich jeder Fußballfan liebend gerne an die Wohnzimmerwand hängen würde. Aus einem Freistoß der Gäste vorm BVB-Tor entwickelte sich in Sekundenschnelle der perfekte Konter: Ein Überfall in Schwarz-Gelb, dem Marseille nichts entgegenzusetzen hatte. „Aus einer solchen Situation am eigenen Strafraum in eine 6:3-Überzahl zu kommen, ist außergewöhnlich“, lobte auch Klopp, der Hohepriester des Umschaltspiels.

Im Zweifelsfall mal gegen das “Schöne Spiel”
Wie vor zwei Jahren der BVB, der in beiden verlorenen Partien nicht mal das schlechtere Team war, musste sich OM fragen, welcher Film da gerade abläuft. Angetrieben vom quirligen französischen Nationalspieler Mathieu Valbuena hielt der leicht ersatzgeschwächte Champions-League-Sieger von 1993 eine Halbzeit lang zumindest ordentlich mit und hatte über die volle Spielzeit sogar mehr Ballbesitz und mehr gewonnene Zweikämpfe aufzuweisen. Trotzdem reichte es nicht, um dem BVB auch nur annähernd gefährlich zu werden.

Nur in einer einzigen Szene brauchten die Gastgeber Glück, schon nach acht Minuten, als Schiedsrichter David Fernandez Borbalan das rüde Einsteigen von Außenverteidiger Erik Durm gegen Saber Khalifa nicht mit einem Elfmeter bestrafte. Ansonsten ließ die BVB-Defensive nichts zu, im Zweifelsfall vergaßen Sven Bender oder Mats Hummels für einige Augenblicke den Gedanken ans „Schönen Spiel“. Der eine, Mittelfeldspieler Bender, ließ Spielmacher Valbuena gleich zwei Mal über die Klinge springen, und der andere, Hummels, war sich nicht zu schade, auch mal einen Ball auf die Tribüne zu jagen. Diese simplen, aber effektiven Techniken hatte die Borussia vor zwei Jahren nicht im Repertoire, als sie Europa stilvoll im Sturm erobern wollte und dabei grandios scheiterte.

Lewandowski trifft, als wäre nichts geschehen
Im Hier und Heute dagegen scheint fast alles zu passen. Schlechtere Zweikampf- oder Ballbesitzwerte gleicht der BVB locker durch intensiveres Spiel aus. So liefen alle Borussen zusammen genommen stolze 127 Kilometer in der Partie, selbst für die Dauerläufer aus Dortmund ein außergewöhnlich guter Wert – und damit fast 17 (!) Kilometer mehr als der Gegner. Durch Marco Reus, Pierre-Emerick Aubameyang und im Übrigen auch Henrich Mchitarjan ist das Spiel zudem noch um einiges schneller geworden.

Und auch fintenreicher, wie der direkt verwandelte Freistoß zum zweiten Treffer durch Reus zeigte. Dass Stürmer Lewandowski trotz des nervigen Wechseltheaters um seine Person einfach weiter trifft, als wäre nichts gewesen, passt ebenfalls ins Bild. Es spricht also Vieles für die These, dass die Niederlage zum Auftakt beim SSC Neapel ein Ausrutscher bleibt.

Durm mit prima Königsklassen-Debüt
Zudem ist der BVB deutlich besser aufgestellt als in der europäischen Seuchensaison 2011/12. Damals waren die zahlreichen Ausfälle von Subotic, Bender, Kehl und Co. nach (Gesichts-)Verletzungen kaum zu kompensieren. Heute spielen die Borussen ohne vier Stammspieler und ohne den Kapitän, und es fällt nicht weiter auf. Was Kevin Großkreutz seit Wochen als Aushilfe auf der rechten Abwehrseite leistet, ist schlicht und ergreifend atemberaubend.

Dazu zieht der BVB kurzerhand den nächsten Shooting-Star aus dem Hut: Erik Durm. Abgesehen von seinem Patzer in der Anfangsphase zeigte der 21-Jährige als Ersatz für Nationalspieler Marcel Schmelzer eine bärenstarke Premiere in der Königsklasse. Das 1:0 bereitete er perfekt vor, außerdem wäre ihm fast noch ein eigener Treffer gelungen, er scheiterte nur knapp an Gäste-Torwart Steve Mandanda. „Für ein Debüt war das außergewöhnlich. Wir sind sehr froh, wie cool er das heruntergespielt hat“, ließ sich Klopp zu einem Sonderlob hinreißen.

Eine Rechnung ist noch offen
Selbst den „Ausfall“ seines Vorturners überstand die Mannschaft locker. Mit Assistent Zeljko Buvac an der Seitenlinie ging das Spiel so glatt über die Bühne, dass der von der UEFA auf die Tribüne verbannte Cheftrainer Klopp sich genötigt sah, eine ironische Warnung ans Team zu schicken: „Ich habe den Jungs gesagt, sie sollen sich nicht daran gewöhnen.“ Alles nur Spaß, versteht sich.

Aber ob das auch für Klopps erweiterte Revanche-Drohung gilt? „Wir haben noch ein Rückspiel in Marseille“, erinnerte der Coach. Wie 2011 stellt das zweite Duell beider Teams den Abschluss der Vorrunde dar. Womöglich wird dann wieder über Wohl und Wehe beider Klubs entschieden. Doch dieses Mal aus BVB-Sicht hoffentlich mit umgekehrten Vorzeichen. Erst dann, so Klopp, „wäre das auch erledigt.“

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