Deutschlands große EM-Wundertüte

Die Abwehr annähernd sattelfest – die Offensive überraschend ideenlos: Gleich zu Turnierbeginn steht Löws Fußballkonzept auf dem Kopf.

Die Fans im Gastgeberland Polen trauten ihren Augen nicht. Mit großen Sympathien hatten viele Einheimische dem EM-Auftakt des großen Favoriten gegen Portugal entgegengefiebert: „Wir mögen die deutsche Mannschaft, sie macht großen Spaß“, sagte etwa Fan Robert in einem gut gefüllten Pub in Gdynia, nur wenige Kilometer vom Quartier des DFB entfernt. Doch dann geriet die erste Partie der Nationalmannschaft im fernen Lwiw beinahe wieder wie in den Achtzigern oder beim Gewinn des Vizeweltmeister-Titels 2002: mäßig gespielt, hart gekämpft, glücklich 1:0 gewonnen. Auf genau diese Art hatte die DFB-Elf früher in Serie gesiegt – und die weltweite Fußball-Gemeinde gegen sich aufgebracht.

So grottig wie Rudi Völlers Resterampe 2002 war der Auftritt der Mannschaft von Joachim Löw natürlich bei weitem nicht. Dafür verfügt das aktuelle Team einfach über zu viel Qualität. Aber sehenswert oder gar bezaubernd – so wie in fast allen Spielen seit der grandiosen WM 2010 in Südafrika – war der erste Auftritt beim Turnier in Polen und der Ukraine ganz und gar nicht. Vielleicht war die Last einfach zu groß zum EM-Start. Alles andere als die Finalteilnahme wurde vorab selbst von den deutschen Spielern als Niederlage eingestuft. Selbst der Bundestrainer rückte nach dem qualvollen Arbeitssieg, der nur mit einem „Lucky punch“ gelang, von seiner Maxime des Fußballspektakels ab. „Wir haben 1:0 gewonnen, das ist das Allerwichtigste“, sagte Offensivprediger Löw ungewohnt pragmatisch. Das schöne Spiel – geopfert auf dem Altar der Titelhoffnung.

Dass der zuletzt zur netten Gewohnheit gewordene deutsche Offensivwirbel stockte, hatte viele Gründe. Die drückende Schwüle setzte den Spielern sichtbar zu und wurde später gerne als Entschuldigung angeführt. Portugals destruktive Defensivtaktik macht es Mesut Özil und Co. schwer bis unmöglich, Räume zu öffnen. Und ohnehin war die Devise „safety first“, nachdem kurz zuvor Gruppenkonkurrent Holland bei der Niederlage gegen Dänemark ein schlechtes Beispiel geliefert hatte. „Das haben wir natürlich mitbekommen“, erläuterte Mats Hummels. „Keiner von uns wollte die selben Fehler machen und zuviel Risiko gehen.“ Außerdem litt die DFB-Elf im Spielverständnis noch unter der zerstückelten Vorbereitung. Das war allein schon daran zu sehen, wenn Philipp Lahm seinen Vordermann Lukas Podolski wieder und wieder mit Pässen Richtung polnische Grenze schickte, als der sich gerade auf den Weg zum Schwarzen Meer aufmachte.

Natürlich ist es auch der Fluch der guten Tat, dass sich selbst Top-Teams wie Portugal – mit Offensivstars Cristiano Ronaldo oder Nani in ihren Reihen – gegen den WM-Dritten aufs Kontern verlegen. Noch vor vier Jahren wäre das undenkbar gewesen. 2008 gingen die Iberer im EM-Viertelfinale als selbstbewusster Favorit ins Spiel gegen die Deutschen. Nun aber gilt schon ein Remis gegen Löws Jungs für alle Teams in Europa außer Spanien als Achtungserfolg, der sich gut verkaufen lässt.

Aber dass die deutsche Mannschaft auf solche Abwehrstrategien trifft, ist viel weniger überraschend als die Tatsache, dass die DFB-Elf keine Antworten findet und – Schwüle hin oder her – schon von Beginn an merkwürdig passiv agiert. Özil jedenfalls agierte im ersten Spiel seiner vermeintlichen EM-Krönungsmesse blass. Warum ausgerechnet der Real-Star zum „Man of the Match“ gekürt wurde, bleibt ein Geheimnis der UEFA-Juroren. Özils enttäuschter Gesichtsausdruck bei der Auswechslung sprach eine ganz andere Sprache als die deutsche Scheinüberlegenheit, die sich in fast jeder beliebigen Statistik ausdrückte.

Auch Bastian Schweinsteiger im defensiven Mittelfeld lief weit hinter seiner Bestform hinterher und trug wenig dazu bei, die dicht gestaffelte portugiesische Schaltzentrale auszuhebeln. Sein Teamkollege Thomas Müller auf der rechten Seite war immerhin supereifrig, aber ebenso glücklos. Dessen Pendant Podolski war mit einigen strammen Distanzschüssen sogar noch der gefährlichste Offensivspieler. Mario Gomez, mit einem wunderbar getimeten Kopfball der spätere Matchwinner, hatte allergrößte Schwierigkeiten, sich zu behaupten und sollte kurz vor seinem Tor ausgewechselt werden. Bezeichnend auch, dass die Flanke zum 1:0-Siegtreffer durch Sami Khedira von einem Portugiesen abgefälscht und damit erst richtig scharf gemacht wurde.

Dafür konnte sich Offensiv-Fan Löw an seiner überraschend sattelfesten Defensive erfreuen. Nur beim Wembley-Kracher von Pepe kurz vor der Pause und bei Nanis verunglückter Flanke benötigten Hummels und Co. Glück sowie die freundliche Hilfe der Torlatte. Ansonsten kämpfte sich die einstige Problemzone der deutschen Elf in die Partie und rettete den knappen Vorsprung schließlich über die Zeit. Bewundernswert, wie sich abwechselnd Hummels, Jerome Boateng als Ein-Mann-Block für Superstar Ronaldo, sowie Holger Badstuber, Lahm und Torwart Manuel Neuer in die Schüsse der Portugiesen warfen. Bewundernswert auch, wie der bislang im Nationaltrikot umstrittene Hummels in seine Rolle wuchs und mehr und mehr als Ersatz-“Quarterback“ für Entlastungsangriffe sorgte.
Genau das macht Hoffnung für das zweite Spiel gegen Holland. Dann wird es zudem in der Offensive deutlich mehr Platz geben, denn die Elftal steht nach der sensationellen Auftaktniederlage gegen Dänemark „schon mit dem Rücken zur Wand“, wie Bundestrainer Löw zu recht bemerkt. Der Erzrivale ist also zum Angreifen verurteilt. Mit einem Spiel Verzögerung will die DFB-Elf dann ihr neues, ihr wahres Gesicht zeigen und auch die Fans im Ausland mit gelungenen Kombinationen und tollen Toren zurückgewinnen.

Aus Danzig berichtet Patrick Brandenburg, 10. Juni 2012

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