Vor dem wegweisenden Spiel in der Champions League bei Sporting Lissabon kämpft die Borussia mit großem Verletzungspech. Die Ausfälle der Arrivierten machen den Umbruch-BVB anfällig, pushen aber auch Dortmunds Jugendstil um Dembélé, Pulisic und Co.
(*Dieser Artikel lief am 17.10.2016 bei zdfsport.de*)
Nach dem jüngsten Ligaspiel gegen Hertha BSC (1:1) zeigte sich Thomas Tuchel fast ein wenig erschrocken über die eigene Wahl der Startelf: „Wir waren extrem jung und unerfahren aufgestellt“, sagte der BVB-Trainer, als er das dürftige Heimremis analysierte.
Angesichts von zehn Verletzten hatte er ein Team mit überbordendem Talent auf den Rasen geschickt, aber ein wildes und rohes: nur 22,5 Jahre alt im Schnitt – lediglich zwei Mal seit Gründung der höchsten deutschen Spielklasse stand eine jüngere Borussia am Anstoßkreis.
Jungstars mit Disziplin-Defizit
Wie fehlerbehaftet eine solche Konstellation noch ist, war gegen clevere Berliner leicht zu erkennen: Die Abwehr ließ sich mit einem einzigen Hackentrick aus den Angeln heben, der Spielfluss selbst mit dosiertem Pressing zerstören, Kreativität mit Defensivpower ersticken. Auch das Temperament von Rotsünder Emre Mor oder Ousmane Dembélés Problem mit der Autorität der Schiris wurde deutlich. Beide haben schon länger ein Disziplin-Defizit.
Doch ebenso leicht war zu sehen, welches Versprechen diese Verjüngungskur trägt. Dass die neue Rasselbande trotz Rückstands ins Spiel zurückfand, stiftet Hoffnung schon für die Partie im José-Alvalade-Stadion von Lissabon. Bei Sporting, das ebenso mit Ausfällen und Unreife kämpft, könnte eine Weiche für das Überwintern in der Königsklasse gestellt werden. Personell winkt kaum Abhilfe, auch daher war das Experiment wichtig. Sokratis oder Lukasz Piszczek mögen zwar wieder fit sein, aber in Kapitän Marcel Schmelzer hat sich bereits der nächste Routinier abgemeldet.
Die Fans gehen aus dem Sattel
Neu ist Dortmunds Jugendbewegung nicht, nur in dieser extremen, vermutlich einmaligen Ausprägung. Schon seit Saisonbeginn bewundern die Fans das neue BVB-Frischesiegel. Beispiel Dembélé: Der 19-Jährige verzaubert das frühere Westfalenstadion mit seinem Playstation-Move: einem irren Haken, der alle Gegenspieler matt setzt. Wenn „Ous“ am Ball ist, steigen die Fans aus dem Sattel wie bei den ersten Raketensprints von Pierre-Emerick Aubameyang.
Selbst Real Madrids Superstars staunten jüngst. Wenn er seine Schüsse jetzt noch auf Torhöhe kalibriert, wird er mächtig einschlagen. Ähnlich talentiert ist der gleichaltrige Mor. Der kleine Tempodribbler ist kaum zu packen. Sollte er Gleichmut lernen und Fußball als Teamsport begreifen, ist auch von ihm Großes zu erwarten.
Pulisic kämpft sich wieder ran
Noch ein Jahr jünger sind Christian Pulisic und Felix Passlack. US-Nationalspieler Pulisic war schon vergangene Rückrunde ganz nah an der Startelf, doch zu Beginn dieser Saison schien er im Mammut-Kader abgehängt. Erst das Pech der Arrivierten hob ihn regelmäßig in die erste Mannschaft.
Der 18-Jährige nutzte die Chance und überzeugt auf der rechten offensiven Seite mit wettbewerbsübergreifend vier Torvorlagen und einem selbst erzielten Treffer. Hinter ihm hält Umschüler Passlack als Piszczek-Ersatz den Abwehrflügel recht gut dicht. Bemerkenswert, denn auch er ist eigentlich im offensiven Mittelfeld zuhause.
Guerreiro hat das Zeug zum Chef
Raphael Guerreiro ist strategisch gesehen wohl der wichtigste Youngster. Der 22-Jährige hat etwas Anlauf gebraucht, sich dann aber in kürzester Zeit unverzichtbar gemacht. Sein Ausfall für das „Heimspiel“ in Portugal wiegt schwer. Eigentlich war Guerreiro hinten links als Backup für Schmelzer vorgesehen, aber im Zentrum beweist der Europameister sogar größeren Wert. Mit seiner Courage könnte sich Guerreiro beim Umbruch-BVB sogar als ein neuer Chef etablieren. Zuletzt deutete zudem noch Mikel Merino seine Klasse an.
In seinem ersten BVB-Pflichtspiel radierte der 20-Jährige eine schwache erste Hälfte gegen Hertha mit einer starken zweiten aus. Das Mittelfeldtalent übernahm als Innenverteidiger den Spielaufbau und leitete sogar den Ausgleich ein. Merino ist nicht für die Königsklasse gemeldet, könnte aber in der Liga zur echten Alternative aufsteigen.
Jugendstil versöhnt die Traditionalisten
Dazu kommen die „versteckten“ Youngster: Julian Weigl (21), nach nur einer BVB-Saison Dreh- und Angelpunkt; Matthias Ginter (22), im dritten Dortmund-Jahr eine verlässliche Größe. Selbst Erik Durm und Mario Götze (beide 24)ließen sich noch nennen. Für den BVB bietet dieser Talent-Pool große sportliche Perspektiven.
Die Aussicht auf Einsätze ist zudem ein wichtiger Pull-Faktor, um Europas Geldadel weitere Jungstars vor der Nase wegzuschnappen. Und nebenbei stellt der Jugendstil ein Mittel gegen die Entfremdung dar, die zwischen Fan-Traditionalisten und ambitionierter Klubspitze keimt: Ist doch gleich viel sympathischer, mit Teens und frühen Twens zum Global Player aufsteigen zu wollen.