Stratege Julian Weigl hat sich in Rekordzeit beim BVB etabliert. Selbst eine erste Formdelle zeigt, wie unglaublich wichtig der Mittelfeldspieler für Dortmunds Gegenwart und Zukunft schon ist.
(*Dieser Artikel lief am 9. und 10.12.2016 bei zdfsport.de*)
Es ging schon stramm auf Mitternacht zu, als sich Julian Weigl in Madrid durch die Pressemeute kämpfte. Selbst spanische TV-Journalisten wollten den Bauch des ehrwürdigen Estadio Santiago Bernabeu nicht ohne ein Statement des schmächtigen Jungstars von Borussia Dortmund verlassen.
Mit einem offenen Grinsen deutete der 21-Jährige das spektakuläre 2:2-Remis, mit sein BVB den ersten Rang in der Champions-League-Gruppe F sicherte. Fragen nach seiner Zukunft schickte er ein lässiges „I am happy in Dortmund“ hinterher. Weigls Stimme ist gefragt in einem Team mit hohem europäischen Anspruch, das im Jahr des Umbruchs noch die eigene Mitte sucht.
Passmaschine plötzlich in der Kritik
Dabei ist es gerade einmal gut anderthalb Spielzeiten her, dass Weigl im Trikot von 1860 München in zugigen Zweitliga-Mixed-Zonen befragt wurde. Nun ist alles zwei Klassen größer, wichtiger – und schwieriger. Dortmunds Dauerbrenner, der nur 4 von 22 Saisonspielen verpasst hat, trägt große Verantwortung und kann einem dabei manchmal ein wenig leid tun.
Denn wie so oft im Fußball-Geschäft schlug das Pendel zuletzt zurück. Nach dem Dauerlob der Premierensaison wurden aktuelle Probleme der Achterbahn-Borussia dem Mittelfeldspieler angelastet. Ob das den oft hakenden Spielaufbau betrifft oder seine Kernaufgabe, die defensive Absicherung. „Der meist überschätzte Spieler der Liga“, schimpfte der twitternde Fußballphilosoph Wolfram Eilenberger jüngst. Genüsslich zerlegten Kritiker das größte statistische Plus der Passmaschine Weigl: die überragende Zahl von Anspielen und deren Genauigkeit.
Mr. Unersetzlich oft alleine gelassen
Selbst der von Weigl aufgestellte Liga-Rekord von 214 Pässen in einer einzigen Partie, die er nicht einmal bis zum Ende bestritt, sei überbewertet. Schließlich hätten noch so viele Sicherheitsbälle nie den gleichen Wert wie Steilpässe in die Spitze, wie etwa Toni Kroos sie bei Real Madrid so meisterhaft liefert. Ironie der Geschichte, dass nicht Weltmeister Kroos, sondern Weigl nun beim Duell in Madrid ein entscheidender Traumpass gelang: Mit einem lässigen 30-Meter-Lupfer über die Abwehr des Titelverteidigers brachte er Dortmund vorm Anschlusstreffer zurück ins Spiel.
Die Kritik wird Weigl ohnehin nicht gerecht. Denn obwohl er sich inzwischen auch Risikopässe wie in Madrid zutraut, ist er kein Spielmacher, sondern ein Weichensteller. Mit einer Zweikampfquote von 64 Prozent gehört er weiter ligaweit zu den Besten – er kann eine Partie zähmen, ordnen und den Kreativ-Künstlern Raum geben. Doch die schwanken in ihren Leistungen oder fehlen ganz. So füllt bislang niemand das Vakuum, das Mats Hummels beim Spielaufbau hinterließ. Der designierte Nachfolger Marc Bartra hinkt den Ansprüchen hinterher und der neue Abwehrchef Sokratis ist nicht der Typ für diese Aufgabe. Im Gegensatz zur Saison 2015/16, die der BVB mit 78 Punkten als bester Zweiter der Liga-Geschichte abschloss, bleibt die Aufgabe nun an Mr. Unersetzlich hängen.
Lohnenswertes Sonderziel
Denn Trainer Thomas Tuchel hat seinem Musterschüler auch den Partner entzogen. Ein Nachfolger für Ilkay Gündogan als offensiver Part auf der so genannten Doppelsechs ist nicht in Sicht. Sebastian Rode ist mit der Rolle überfordert, Gonzalo Castro oder Mario Götze sind vorne wertvoller, Raphael Guerreiro fehlt seit Wochen – und die Wahl Nuri Sahin mochte Tuchel fast nie treffen.
Vielleicht auch deswegen hat sich der Coach in dieser Saison weitgehend von der Doppelsechs verabschiedet und lässt Weigl in der 4-1-4-1-Grundformation im doppelten Sinne oft alleine. Das klappt manchmal ganz gut, etwa gegen Gegner, die nur stumpf verteidigen. Oder gegen Topteams wie Real, die ihre eigene Offensive so sehr schätzen, dass sie Pressing eher vernachlässigen. Aber Teams wie Leipzig, Leverkusen oder Frankfurt haben den BVB-Ballverteiler als lohnenswertes Sonderziel identifiziert und machen Weigl das Leben schwer. Die Dortmunder Dauer-Rotation und wechselnde Systeme tragen ihren Teil dazu bei, dass der Youngster noch nicht die Form des sensationellen Debütjahres gefunden hat, für das er vom „kicker“ zum besten Newcomer gekürt wurde und das ihn in die Nationalelf katapultierte.
Tuchel: “Noch nicht bereit für Real”
Kein Wunder, dass Weigls bislang bester Auftritt dieser Spielzeit der in der Königsklasse bei Sporting Lissabon war. Gegen ein Team, dass sich vorm Hinspiel kaum die Mühe machte, die Stärken und Schwächen des Gegners zu analysieren und Weigl so offensichtlich gewähren ließ, dass ihm im 105. Profispiel sein allererstes Tor gelang. Spätestens diese Momente erinnern daran, welches Juwel sich der BVB im Sommer 2015 mit dem 2,5-Millionen-Euro-Schnäppchen geangelt hat.
Europas Geldadel steht längst Schlange, um Weigl den Kopf zu verdrehen. Pep Guardiolas Wertschätzung ist schon aus der FC-Bayern-Zeit bekannt. Bei dessen aktuellem Klub Manchester City könnte Weigl die Achse mit Gündogan wiederbeleben. Aber auch der FC Barcelona und Real Madrid strecken angeblich ihre Fühler nach Dortmunds Nummer 33 aus. Mit jedem Auftritt in Europa werden die Begehrlichkeiten größer. Lieber heute als morgen würde BVB-Sportdirektor Michael Zorc daher mit dem Shooting-Star über 2019 hinaus verlängern.
Und offensichtlich hat die Borussia Hoffnung, diesen Baustein für die Zukunft zu sichern. Trainer Tuchel sagte nach dem Highlight in Madrid: „Wie die gesamte Mannschaft hatte Julian eine schwierige erste Halbzeit. Stand jetzt ist er noch nicht bereit für einen Klub wie Real.“ Mit solch einer eher lieb gemeinten und nicht ganz uneigennützigen Kritik können bei Schwarz-Gelb gerade alle happy sein – vermutlich auch Weigl.