Dortmunds Joker für die Zukunft

Sebastian Kehl könnte eine Stilikone werden für die neuen Macher der Bundesliga. Der clevere Lizenzspielerchef des BVB lernt im Schnelldurchlauf die Tücken des Geschäfts – auch die schmerzhaften.

Dieser Artikel lief am 2.11.2019 bei zdfsport.de

Er übernimmt Verantwortung, und macht das gerne: Sebastian Kehl kommt als erster Dortmunder in die Mixed Zone des früheren Westfalenstadions, und steht – den Rücken durchgedrückt – der Pressemeute Rede und Antwort. Es gilt, den glanzlosen Erfolg der Dortmunder in der 2. Runde des DFB-Pokals gegen Gladbach einzuordnen.

Seine Borussia sucht den früheren Punch und die Leichtigkeit. Kehl lobt, ohne zu beschönigen, kritisiert auf sachlichem Fundament. Der „Chef der Lizenzspielerabteilung“ des BVB ist zu einem gefragten Akteur bei Schwarz-Gelb aufgestiegen.

Über Sprachschablonen hinaus
In nur 16 Monaten seit offiziellem Beginn seiner Tätigkeit beim BVB hat sich Kehl intern wie extern in der neuen Rolle etabliert. Seine Stimme hat Gewicht. Die schwammige Stellenbeschreibung als Bindeglied zwischen Team und Vereinsspitze hat der 39-Jährige mit Leben gefüllt. Er dient nicht nur den Medien als Kontakt, der über gängige Sprachschablonen hinaus formuliert. Charakterkopf Kehl vertritt den Verein als Sprachrohr bei Fantreffs, Vorträgen oder Fachtagungen.

Der Mannschaft den Puls nehmen
Der frühere BVB-Kapitän vernetzt die immer komplexere Borussen-Welt, bringt die Fachleute aller Abteilungen zusammen, Physios, Mediziner, Trainer, Ernährungsberater, Scouts, Jugendbetreuer. Er organisiert den Austausch hinter den Kulissen, der unspektakulär, aber nötig ist, um die rasant ausdifferenzierende Welt eines Profisportbetriebs mit fast einer halben Milliarde Euro Umsatz vorm Zerfasern zu retten. Der Mannschaft den Puls nehmen – ja, das soll er auch. Dieser Teil der Arbeit nimmt aber wohl einen geringen Teil ein, als der Boulevard oft suggeriert.

Straffes Programm nach Karriere-Ende
Dortmunds ehemalige Nummer 5 bringt alles mit für eine große Karriere als Fußballfunktionär. Als mehrfacher Meister ist der frühere Vorzeige-Profi sportlich unangreifbar, als Leader mit Meinung bis heute ein Vorbild. Nach dem Ende der aktiven Karriere war Kehl so klug, sich eine Denkpause zu gönnen. Alleine auf Weltreise, das hat die Perspektive erweitert, einen frischen Blick auf die Branche gefördert und Kraft für ein straffes Lern-Programm gegeben: Management-Studium bei der UEFA, erste Jobs bei DFB und DFL sowie die Tätigkeit als TV-Experte haben ihn für die anspruchsvolle Aufgabe gestärkt.

In Zorcs Fußstapfen?
Stallgeruch, Cleverness, Lernbereitschaft und Gestaltungswillen – kein Wunder, dass Kehl für Klubchef Hans-Joachim Watzke und Sportdirektor Michael Zorc die Idealbesetzung war, als der BVB im Krisensommer 2018 frische Impulse brauchte. Selbst die Trainer-A-Lizenz hat „Kehli“ in der Tasche – die drei Jahre zwischen seinem letzten Profispiel, der Pleite im Pokalfinale gegen Wolfsburg und der neuen Laufbahn hat er intensiv genutzt. Kehl hat das Zeug zur Stilikone der nächsten Generation von Fußball-Managern. Bei seinem Herzensklub könnte er in die Fußstapfen von Sportdirektor Zorc treten, der sich nun auf die zeitraubende Kaderplanung konzentriert.

Einfluss manchmal eingeschränkt
Aber selbst jemand mit einem Startvorteil wie Kehl stößt in diesem Geschäft auf Hindernisse. Sein heutiges Vertrauensverhältnis zu Trainer Lucien Favre musste er sich erarbeiten. Der Schweizer gilt als schwer nahbar und es dauerte wohl, bis der Coach den loyalen Helfer nicht mehr nur als Aufpasser der Geschäftsführung wahrnahm. Auch in seiner Rolle als Team-Radar stieß Kehl an Grenzen. Schon früh in der vergangenen Rückrunde muss den wichtigsten BVB-Akteuren klar gewesen sein, dass die Meisterschaft gefährdet ist. Gegensteuern ließ sich trotzdem nicht mehr. Letztlich hat der Trainer den entscheidenden Einfluss.

Schmaler Grat
Auch in dieser Saison hat Dortmund trotz toller Transfers mit einer rätselhaften Leistungsdelle zu kämpfen. Bei der sich abzeichnenden Niederlage bei Union Berlin juckte es Kehl wohl kurz in den Fingern, als er anstelle des rätselhaft passiven Favre eine Hitze-Trinkpause nutzte, um die Spieler anzustacheln. Es ist ein schmaler Grat zwischen richtig handeln und angemessen. Oder um es positiv zu formulieren: Der BVB bietet Kehl eine Fülle an Lehrmaterial für eine bessere Zukunft.

Konfliktfeld Jungmillionäre
Gleiches gilt für den Umgang mit jungen Spielern, Kehls jüngster Crashkurs. Zwar ist er vom Alter her nicht meilenweit vom aktuellen Kader entfernt. Mit einigen Spielern hat er sogar noch selbst gekickt. Aber Jungstars wie Jadon Sancho ticken ganz anders. Wenn sich der 19-Jährige Tempo-Dribbler via sozialer Medien über sein Playstation-Fifa20-Rating echauffiert oder verspätet zum Training erscheint, öffnen sich Konfliktfelder mit Frust-Potenzial. Auch Kehl verließ früh mit 16 Jahren das Elternhaus.

Doch lange vor der Rundumsorglos-Kultur in der Jugendarbeit der Bundesligisten musste Kehl selbst Verantwortung übernehmen – für den Traum vom Profifußball, für sein alltägliches Leben. Fehlende Disziplin war kein Thema. Nun den Spagat zwischen nötiger Lebenshilfe und ohnmächtiger Verhätschelung der Jungmillionäre hinzubekommen – auch damit muss sich die Generation Kehl in ihrem ambitionierten Gestaltungswillen auseinandersetzen.

Diesen Artikel mit Freunden teilen?

    Kommentar verfassen