Im zweiten Jahr beim BVB ist Thomas Tuchel voll in seinem Element: Der experimentierfreudige Trainer darf sein Team neu erfinden. Doch der Umbruch könnte schwieriger werden als befürchtet, wie der jüngste Test gegen Bilbao andeutet. Und um Marco Reus gibt es einige Verwirrung.
(*Dieser Artikel lief am 10.8.2016 bei zdfsport.de und heute.de*)
Als die 0:1-Pleite gegen Athletic Bilbao perfekt war, bemühte sich Thomas Tuchel um eine ruhige, differenzierte Analyse. In einer improvisierten Presserunde im Bauch des Kybunparks von St. Gallen demonstrierte der Coach Lässigkeit und referierte mit den Händen in den Hosentaschen über die Probleme der Saisonvorbereitung. Doch Borussia Dortmunds Coach wippte hin und her, in ihm brodelte es.
“Die Ausschläge nach unten müssen weg”, forderte er nach dem schlechtesten Spiel der Testphase. Fünf Tage vorm Supercup gegen den FC Bayern und keine drei Wochen vor Beginn der Bundesliga ist der BVB längst nicht so weit wie erhofft. Dabei war es klar, dass es ein Großprojekt würde, für gut 110 Millionen drei Säulen des Teams zu verkaufen und für die gleiche Summe acht Neue zu holen.
“Nicht an Vorstellungen kleben”
“Die Kunst des Jetzt ist, nicht an Vorstellungen zu kleben. Sondern alles offen zu beobachten, um einen Stil zu finden”, philosophierte der Coach schon zum Start der Saisonvorbereitung. An seinem Ideal vom Ballbesitz-Fußball will er festhalten, zumal die vergangene Spielzeit für die Borussia in spielerischer Hinsicht ein Quantensprung war. Doch auf den weiteren Weg dorthin mochte sich Tuchel bislang nicht festlegen. Taktik, System und Grundformationen sollen davon abhängig sein, was ihm die Spieler anbieten.
Etwa Ousmane Dembélé, der vorne rechts freche Dribblings zeigt, aber im Rückwärtsgang oft Hilfe braucht. Oder der Hummels-Nachfolger Marc Bartra, dessen Auftritte als Innenverteidiger noch nicht an sein in Barcelona gestähltes Ego ran reichen. Oder die Nationalspieler André Schürrle und Mario Götze, beide gegen Bilbao erstmals in der Startelf. Letzterer hofft, in der kreativen Mitte des Feldes wieder aufzublühen, gegen die Basken holte er einen Elfmeter raus, den Pierre-Emerick Aubameyang aber verschoss.
Jede Woche neue Startelf?
Alleine das Sichten der diversen Versuchsanordnungen dürfte sich bis tief in die Hinrunde ziehen. Zumal sich fünf der Neuen noch an unbekannte Trainingsinhalte, Tempo und Härte der Bundesliga zu gewöhnen haben – und ganz nebenbei an die fremde Sprache und Kultur. “Viele unserer Spieler sind in diesem Prozess gerade an eine Grenze gestoßen”, warb Tuchel nach der schwachen Partie in St. Gallen um Nachsicht und Zeit.
Die Talente im laufenden Liga-Betrieb zu verschmelzen – da könnte man auch einem Formel-1-Boliden während des Rennens die Reifen wechseln. Für einen wie Tuchel ist das vermutlich genau die richtige Herausforderung. Es sollte sich keiner wundern, wenn der Taktik-Tüftler jede Woche eine neue Startelf in geänderter Grundformation präsentiert. So wie im ersten Jahr bei Mainz 05. Damals passte der Liga-Novize sein Team jedem Gegner individuell an und führte den Außenseiter sensationell auf Rang fünf.
Mehr Wettbewerb geht kaum
Das Überwintern in der Champions League ist für den Klub zu wichtig, daher dürften vor allem DFB-Pokal und Bundesliga zum Open-Air-Labor werden. Nur Stürmer Aubameyang ist unantastbar. Im Tor bleibt trotz zweier gleich starker Kandidaten wohl einzig die Frage, ob Roman Weidenfeller Einsätze im Pokal geschenkt bekommt. Königsklasse und Bundesliga gehen mit großer Sicherheit an Roman Bürki. Dagegen scheint überall sonst ein Grundkurs Kombinatorik nötig. Aus dem 29-Mann-Kader lassen sich zwei fast gleichwertige Teams konstruieren. Auf dem linken Flügel etwa könnten Marco Reus und BVB-Rekordtransfer Schürrle bald um eine Planstelle streiten. Mehr Wettbewerb geht kaum.
Wann Reus allerdings ins Training einsteigt, bleibt fraglich. Nach dem Bilbao-Spiel deutete Tuchel eine längerfristige Pause an. Später beeilte sich der BVB, die Aussage noch in der Nacht einzufangen: Man halte daran fest, dass der Nationalspieler Mitte August in den Übungsbetrieb zurückkehre. So oder so, der Trainer muss darauf achten, die Unwucht zwischen geballter Offensivpower und defensiver Verwundbarkeit zu beseitigen. Dazu hat er nicht nur positionsgetreue Optionen.
Diesmal keine Bayernjäger
Denn für Unorthodoxes ist “Rulebreaker” Tuchel ja bekannt, wie zuletzt in der Vorbereitung wieder zu sehen: Europameister Raphael Guerreiro half beim Test gegen AFC Sunderland im defensiven Mittelfeld aus, Mikel Merino in den letzten beiden Partien als Innenverteidiger und Felix Passlack als Backup hinten rechts. Es wäre keine Überraschung, wenn sich Ende der Saison zwei, drei Spieler von ihrer Stammposition verabschiedet hätten. Diese Varianten sind für Tuchel ein Segen. Denn schon drohen sich die Youngster gegenseitig zu blockieren.
Ein Shooting-Star wie der erst 17 Jahre alte Christian Pulisic könnte noch in den unteren BVB-Teams spielen. Aber nach einer starken Rückrunde, die ihn im Sommer zum US-Nationalspieler beförderte, wäre es eine Degradierung. Bei Guerreiro und Dembelé hat sich die Borussia überhaupt nur gegen Europas Geldadel durchgesetzt, weil die Aussicht auf regelmäßige Einsätze lockte. Diese Hoffnung will der Klub sicher nicht enttäuschen.
Kein Wunder, dass sich die Westfalen beim komplexen Neuanfang Geduld verordnet haben. Die Rolle als Bayernjäger lehnen die Chefs deshalb ab. Dass sich der Vizemeister mit deutlich weniger als in der vergangenen Saison zufrieden gibt, sollte die Konkurrenz aber trotz der aktuellen Probleme nicht als selbstverständlich nehmen. Der ehrgeizige Tuchel hat längst kapiert, wie der BVB tickt: “Wir stellen unsere Ansprüche nicht hinten an.”
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